von Rainer

Nachts steh’n wir am Strand und schau’n auf das Meer.
Das Meer ist so weit. Wir treiben umher
im Innern des Selbst. Kein Land ist in Sicht,
kein Leuchtturm voraus, kein rettendes Licht.

Wir fühl’n uns verloren in nächtlicher See,
weil in uns kein Ufer, kein Halt ist in Lee
oder Luv. So alleine, da woll’n wir nur fort.
Wir träumen vom Hafen als sicherem Ort.

Vom Hafen der Ehe. Von Treue als Lohn
All der Mühe zu halten den einsamen Thron
unserer Liebe als Bollwerk, Verteidigungsturm
gegen’s Meer der Gefühle, den inneren Sturm.

So steh’n wir am Hafen, doch seh’n noch das Meer.
Die See ist noch da. Sie lockt uns so sehr!
Da bau’n wir ein Haus mit Mauern aus Stein
um endlich zu Hause und sicher zu sein.

Im Innern des Hauses ist’s friedlich und still
für den, der nicht länger umhertreiben will.
Das Inn’re der Liebe erscheint ideal,
der Blick durch die Fenster jedoch eine Qual.

Denn dort lockt die See, will mit sich uns zieh’n.
Ein Vorhang muß her, den Anblick zu flieh’n
der wogenden See. Und elektrisches Licht
gegen’s Dunkel da draußen. Dann fürchten wir’s nicht.

Doch können wir leben so ganz isoliert
im Innern des Hauses, der Wände Geviert?
Wir fühlen uns doch nur ganz schrecklich allein
im Innern des Hauses mit Wänden aus Stein.

Es ist doch gerade so wie auf dem Meer:
in uns die Weite, gigantisch und leer.
In uns die Sehnsucht zu leugnen wär’ Mord.
Es gibt auf der Welt keinen sicheren Ort!

Es gibt keinen Stillstand auf dieser Welt,
denn was nicht mehr wachsen kann, immer zerfällt.
Und was nicht zerfällt, dasjenige wächst.
Alles im Wandel, beinah’ wie verhext.

Doch wenn denn, was wachsen kann, nicht so zerfällt,
wie’s Technik und Mauern tun in dieser Welt,
dann müssen wir lernen zu wachsen wie nie:
erforschen die innere Topographie!

Ein Seezeichen brauchen wir, Karten und Licht,
’nen Kompaß der Seele, sonst wagen wir nicht
auf’s Meer der Gefühle mit unserem Boot
zu fahren: Verirrung, Vernichtung uns droht.

Doch bringen wir Licht in das Dunkel der See
uns’rer Seele im Herzen, erkennen wir jäh:
hier sind wir zu Hause, keine Angst, keine Scham.
Wir können nur wachsen. Ohne Schuld, ohne Harm.

Rügen im Juli 2002