Von Karin

Eine der vielen Fragen, die ziemlich zu Anfang auftauchen, wenn Menschen neu mit dem Thema Polyamorie zu tun bekommen, ist die nach dem Umgang mit Ehrlichkeit. Nun würden die Meisten konstatieren, dass sie in ihrer Beziehung ehrlich sind. Jedenfalls normalerweise, wenn es den Partner nicht zu sehr verletzt, denn manches kann man ja nicht sagen. Oder?

Häufig wird gefragt: wenn ich einen neuen potentiellen Partner kennen lerne, wann sollte ich das Thema Polyamorie ansprechen? Meine Antwort: sofort. Auch, wenn das bedeutet, dass der andere Mensch Abstand nimmt, auch wenn unangenehme Fragen kommen, auch wenn der Andere konsterniert ist. In dem Moment, wo ich diesem neuen Menschen begegne, lege ich das Fundament für eine mögliche zukünftige Beziehung. Ich möchte zeigen, dass ich vertrauenswürdig bin, und das bin ich nur, wenn ich wichtige Informationen von mir aus preisgebe. Mag sein, dass der Eine abgeschreckt wird, mag aber auch sein, dass der Nächste spürt, dass da jemand ist, der verlässlich und offen ist, und dass gerade dies attraktiv ist.

Meiner Erfahrung nach erfordert das Leben in mehreren Beziehungen einen anderen, radikaleren Umgang mit Ehrlichkeit und, damit verbunden, Offenheit. Zur Abgrenzung ein Beispiel: ich könnte mich als ehrlich bezeichnen, wenn ich jede Frage meines Partners wahrheitsgemäß beantworte. Offen bin ich allerdings erst dann, wenn ich ihm auch die Informationen gebe, von denen ich weiß, dass sie für ihn wichtig sind. Es wäre destruktiv, mich hier dahinter zu verstecken, dass er ja nicht gefragt hat. Es gibt die Redewendung: „Don’t ask, don’t tell“, d.h. manche Paare verständigen sich auf den Modus, dass beide machen können, was sie wollen, solange der Partner nichts davon mitbekommt. Und damit das möglichst so bleibt, fragen beide auch nicht nach. Da ist einer eben mal nicht da, kommt irgendwann wieder und das wars. Mir persönlich wäre solch eine Beziehung zu distanziert.

In unserem Beziehungsnetz bedeutet diese ehrliche Offenheit zum Beispiel, dass wir uns erzählen, wenn wir spannende neue Menschen kennen lernen. Dass wir uns über Entwicklungen in den je anderen Liebesverbindungen informieren, so dass alle in etwa wissen, was gerade wichtig ist. Das kann so aussehen, dass Rainer oder Holger nach Hause kommen, nachdem sie die Nacht mit einer anderen Liebe verbracht haben und ich frage, ob sie einen schönen Abend hatten. Je nach Stimmung und Wichtigkeit könnten sie dann berichten, was die Beiden unternommen haben, eine Beschreibung eher im Außen. Oder sie reden darüber, was die Gesprächsthemen waren, vielleicht erzählen sie auch ein wenig vom gemeinsamen Sex. Dabei haben wir durchaus gegenseitig Respekt vor dem privaten Raum der Anderen. Mag sein, dass Rainer nicht konkret darüber spricht, was die andere Frau ihm anvertraut hat, weil das deren Vereinbarung ist. Das ist kein Problem, das kann er mir so sagen. Ich weiß, dass er weiß, was für mich wichtig wäre, und das erfahre ich auch. Im Allgemeinen sprechen wir auch wenig über Details der sexuellen Begegnungen, schlicht weil das selten relevant ist und aber auch, weil es zum privaten Raum der Anderen gehört.

Wir erzählen auch, wenn wir Vereinbarungen nicht eingehalten haben, und das ist natürlich ein besonders heikles Thema. Dazu ein Beispiel, das mich sehr berührt hat und das auch zeigt, wie wir aufeinander achten. Es zeigt für mich den Geist, die Atmosphäre des Miteinander.

Holger hatte eine relativ neue Beziehung begonnen und die Vereinbarung war, dass die Beiden Kondome benutzen, hauptsächlich um eine Schwangerschaft auszuschließen. Einen Tag später beim Frühstück sprachen wir kurz darüber und er bestätigte, dass der Sex geschützt* stattgefunden hat. Direkt danach hatte er eine sehr heftige Schwindelattacke, ganz ungewöhnlich. Am nächsten Tag fuhr ich mit Rainer für einige Tage zu einem großen Fest bei meiner Familie, Holger blieb zu Hause. Wieder zurück erzählte mir Holger dann mit ganz großen Ängsten, er habe mir an diesem Punkt die Unwahrheit gesagt, weil er mir die wenigen, seltenen Tage mit meiner Familie nicht verderben wollte. Er sah ganz richtig voraus, dass mich andernfalls die ganze Zeit beschäftigt hätte, ob diese Frau nun schwanger ist oder nicht. Holger ist ein absolut ehrlicher Mensch, der Anderen auf jede Frage die Wahrheit sagt, auch wenn das sehr unbequem sein kann, und das wusste ich seit 15 Jahren. Mir war klar, dass er mir unbeschwerte Tage ermöglicht hat um den Preis, dass er nicht wusste, wie ich nach meiner Rückkehr reagieren würde. Er ging davon aus, dass ich tief verletzt und enttäuscht sein und dass es lange dauern würde, das gebrochene Vertrauen zu kitten. Dennoch hat er getan, was für ihn richtig war. Ich habe das sofort gesehen und konnte ihn nur in die Arme nehmen und mich bedanken. Es dauerte dann einen ganzen Tag, bis er glauben konnte, dass ich verstanden hatte, was passiert war.

* „geschützt“ bedeutet in diesem Fall mit Kondom zur Verhütung einer Schwangerschaft. Da es einen STI-Test gegeben hat, war der Schutz vor Ansteckung sexuell übertragbarer Infektionen sichergestellt.