von Rainer und Susa
Oft, wenn wir ausserhalb polyamorer Kreise von unserer Lebensweise erzählen, werden wir gefragt, ob, wenn denn diese Lebensweise so viel besser wäre als die des Mainstreams, denn jetzt alle so leben müssten. Oder, defensiver, man fände das ja gut, sei aber leider nicht so „modern“ bzw. „so weit“.
Ja, wir finden, dass Polyamorie unser Leben reicher, schöner und einfacher macht – sonst würden wir nicht so leben. Aber wir finden keinesfalls, dass alle so leben müssen. Wir wollen ja schließlich auch nicht gezwungen sein, monoamor zu leben – wieso sollten wir dann andere zu zwingen versuchen, polyamor zu leben? Und wenn es uns ärgert, wenn Menschen, die monoamor leben, meinen, unsere Lebensweise als minderwertig betrachten zu müssen, weil es ja keine wahre, aufrichtige Liebe sein könne, wenn sie mehr als nur einem einzigen Partner gelte – wieso sollten wir das dann umgekehrt mit ihnen tun, wenn ihre Liebe nur einem einzigen Partner gilt?
Ideologien lassen sich leicht an zwei Merkmalen erkennen: erstens brauchen sie einen äußeren Feind. Das kann eine andere Ideologie sein, oder auch schlicht „die Gesellschaft“ – also alle Menschen außer den Anhängern der Ideologie selbst. Und zweitens sind sie kontrollierend im Innern – gegen Abweichler in den eigenen Reihen. Da wird viel um die „wahre“ Ideologie gerungen und diskutiert, welche es denn nun sei und welche nicht. Auf diese Weise sind Ideologien immer von Spaltung bedroht.
Es ist leider eine traurige Tatsache, dass ideologische Haltungen und Vorurteile nur allzu oft den gesellschaftlichen Diskurs insgesamt vergiften, egal worum es geht: Sozialpolitik, Verkehrsmittel (Autos, Radfahrer, Fußgänger, Motorradfahrer, ÖPNV), Wirtschafts- und Finanzpolitik usw. Es gibt zunehmend keinen gesellschaftlichen Bereich mehr, in dem nicht Meinungen das Übergewicht haben gegenüber sachlichen Argumenten. Müssen wir als Polyamore diesen Unsinn mitmachen?
Wir denken, ideologische Haltungen kaschieren nur eins: dass wir nämlich wenig bis keine Ahnung haben vom Gegenstand unserer Betrachtung, dieser Fakt Unsicherheit bezüglich unserer inneren Haltung dazu erzeugt und wir diese Unsicherheit durch umso kernigere Aussagen und Handlungsweisen zu kaschieren versuchen: je weniger Ahnung, desto kerniger. Und eines sollte klar sein: die inneren Prozesse, die eine polyamore Lebensweise so mit sich bringt, verunsichern enorm! Und zwar sowohl diejenigen, die sich ihnen direkt aussetzen, als auch diejenigen, die sie von außen beobachten und evtl. gar nicht unmittelbar betroffen sind.
Warum aber verunsichern diese Prozesse so sehr? Zum einen natürlich, weil Polyamorie für die meisten von uns von unserer erlernten, gewohnten Norm abweichen. Zum anderen aber ist Polyamorie als Begriff auch so offen definiert, dass er dazu einlädt, ihn nach der eigenen Wahrnehmung und der – tatsächlichen oder auch nur so empfundenen – Lebenssituation frei umzudeuten. Viele Menschen definieren „ihre Polyamorie“ so beliebig, dass wesentliche Charakteristika wie „Liebe“, „Sex“, „Verbindlichkeit“, „Einvernehmlichkeit“ zerfasern, mitunter sogar ad absurdum geführt werden. Es fehlt an Klarheit, an Einsicht in die Notwendigkeit einer inneren Neuausrichtung bis hin zum Umbau der eigenen Psyche, soll nicht die Besonderheit der polyamoren Lebensgestaltung verloren gehen.
Diese Selbstfindungs- und Neuorientierungsprozesse kosten Kraft und Ressourcen durch Arbeit an sich selbst. Viele Menschen finden an diesem Punkt in einer ideologischen Haltung Entlastung von der Unbequemlichkeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen und neue Verhaltensweisen zu entwickeln. Ersetzt wird die Klarheit und Orientierung der Monoamorie durch eine angenommene Zugehörigkeit zur Polyamorie, einer Art Kuschelideologie, die stets die zeitgleiche Abgrenzung nach außen und die Verteidigung der eigenen Wahrnehmung/Definitionsmacht beinhaltet.
Dies betrifft nicht ausschließlich, aber dennoch insbesondere die sich aus feministischen und emanzipatorischen Diskursen ergebende Definitionsmacht zum Verhältnis von Liebe und Sex. Zwar betrachten auch wir polyamore Beziehungen als Forschungs- und Erfahrungsraum für die Selbstwirksamkeit und die Selbstermächtigung aller Geschlechter, sowohl der biologischen als auch der empfundenen Geschlechtszugehörigkeit („gender“). Und wir sind sehr für Empowerment und queere Debatten!
Wir erleben aber leider auch oft, dass im Zusammenhang mit Sex Frauen erstmal „Nein“ sagen, wenn sie „Ja“ meinen; dass sie sich zieren und erobert werden wollen. Die empfindsameren unter den Männern lassen sich davon abschrecken, und die betreffende Frau hat dann den Eindruck, dass „er ja gar nicht will“. „Richtige Kerle“ dagegen fühlen sich nun erst recht aufgefordert, sich ins Zeug zu legen… Diese Frauen erweisen anderen Frauen einen Bärendienst.
Auf der anderen Seite ernten Frauen, die sich sexbejahend in so einer Situation verhalten, oft Abwertung und Verachtung seitens der Männer, werden als „eine, die es nötig hat“, als „nuttig“ oder Schlimmeres tituliert. Zwar selten offen, dafür aber unso mehr hinter ihrem Rücken.
Solche emanzipatorischen Widersprüche treten nach unserer Beobachtung in dem Maß auf, in dem emanzipatorische Bewegungen – auch die Frauenbewegung – sich selbst ideologischer Mechanismen bedienen.
In der sexuellen Selbstbestimmung, im Schutz vor sexualisierter Gewalt und Missbrauch ist Definitionsmacht ein wichtiges Instrument zum Schutz der Opfer. Sie dürfen die Wahrnehmung einer sexuellen Handlung als Übergriff definieren, selbst wenn sie ihre fehlende Zustimmung bzw. die mangelnde Einvernehmlichkeit nicht eindeutig bekundet haben. Schweigen ist kein „Ja“, sondern eine Verweigerung der Zustimmung, unabhängig von der Deutung anderer. Auch ein „Vielleicht“ ist keine Einladung, umgestimmt oder „erobert“ zu werden, sondern zeigt eine Unsicherheit, eine Unklarheit darüber, ob das, was passiert, erwünscht und gewollt ist. Fehlendes Einverständnis in Form einer ausbleibenden, eindeutigen Zustimmung ist eine gezogene Grenze, auch wenn das Gegenüber diese Grenze nicht als solche (aner)kennt. Hier wurde in der Vergangenheit sexueller Befreiungsbewegungen zu vieles unter den Teppich gekehrt, wurde zu vieles einer neuen Freiheitsideologie untergeordnet.
Dennoch halten wir es für extrem destruktiv, wenn Polyamore sich zu einseitig an die jetzige Definitionsmacht anlehnen. Denn es liegt auch bei den Opfern, Übergriffe als solche zu benennen. Wenn sie dies nicht tun, führt das in einer Art vorauseilenden Gehorsams letztlich zu so absurden Behauptungen wie der, dass es bei Polyamorie überhaupt nicht um Sex ginge. Es geht aber sehr wohl um Sex, jedenfalls für die meisten von uns. Es geht lediglich nicht nur um Sex, sondern ebenso um Liebe, um eine Neufindung von Begriffen wie Treue, Betrug, Verbindlichkeit, Sicherheit und Einverständnis. Und natürlich geht es nicht um Sex als Machtmittel.
Kurz: wir alle suchen einerseits inneren Halt im Miteinander, in anderen Menschen, es gibt aber andererseits für eine polyamore Lebensweise kaum gesellschaftlichen Vorbilder und nur wenige Erfahrungen, die uns miteinander verbinden könnten. Und wenn doch, dann oft nur, wie es eben nicht geht, im Scheitern. Umso wichtiger ist es daher, diesem Mangel etwas entgegenzusetzen, indem wir als Polyamore die notwendigen Erfahrungen selbst machen, feststellen, auf welche Möglichkeiten polyamoren Lebens wir dabei stoßen, dieses dann in der Reflexion zu verallgemeinern suchen, die Verallgemeinerungen wiederum überprüfen und schließlich darüber berichten. Mit anderen Worten: klassische Forschungsarbeit, die unser Wissen über die Welt im besten Fall zu bereichern in der Lage ist.
Und nichts ist Ideologien abträglicher als eben dies: Wissen. Einschließlich des Wissens über das Wesen der Ideologie selbst.